Fehlende Teile, bei Birgit Vanderbeke

(Ausschnitt)

Unwiderstehlich manchmal, der Wunsch und die Sehnsucht, allein zu sein. Und dann geht Lila allein spazieren. Es kommt nicht sehr oft vor, nicht so oft, wie sie möchte, aber gelegentlich is es schon vorgekommen. Nicht besonders gern geht Lila im Wald spazieren, im Wald ist es etwa so eng wie im Leben, und niemals nimmt sie den Hund mit, der Hund ist ein Blindenhund, und also gehört er dem Mann. Aber sehr gern und trotzdem zu selten geht Lila am Wasser entlang spazieren. Wo immer ein Wasser ist, spricht Lila davon, dass sie sehr gern allein an dem Wasser entlang spazierengehen möchte, und es kommt vor, dass sie es dann auch macht. Sowieso sprocht Lila hauufig davon, dass sie viel mehr allein sein möchte, allein sein und alleine spazieren; wenn man Lila so sprechen hört, ist Alleinsein der Gipfel des Lila-Vergnügens, wundern muss man sich, dass sie es trotzdem recht selten macht, aber gelegentlich ist es auch vorgekommen, und dann geht sie beispielsweise am Wasser entlang. Sie schaut zuerst nachdenklich auf das Wasser und denkt, dass das Wasser also ein Wasser ist, manchmal ein graues Wasser, nämlich meistens, ein andermal ist es braun, weil Wasser sehr oft braun ist, oder grünlich, weil Bäume am Ufer herumstehen oder Wiese mit Büschen am Ufer wächst, und manchmal ist es blau, und dan sieht Lila blaues Wasser, regelmässig ist dann der Himmel über dem blauen Wasser auch blau; Lila hat auch schon schwarzes Wasser gesehen, zweimal nachts, als sie nachts am Wasser spazierengegangen ist, der Himmel war schwarz, und das Wasser war auch schwarz, ein einmal war ein Mond da, und einmal war kein Mond da nachts über dem schwaze Wasser. Das eine Mal, als der Mond da war, und Sterne waren auch ein paar da, hat sehr weit weg hinten das schwarze Wasser geleuchtet, und weiter vorn war einigermassen weiss etwas Gischt auf dem Wasser, weil es windig war und sich das Wasser in schwarzen Wellen vom Wind oder aus sich selbst heraus in Richtung aufs Land bewegte, und Lila ist sich bis heute nicht sicher, ob es ein schwarzes oder ein sehr dunkelblaues Wasser gewesen ist, Lila hat häufig sagen hören, in diesem Falle hiesse das Wasser samtblau, und das ist ihr ziemlich egal, wenn nicht gar etwas zum ärgern; wenn Lila alleine spazierengeht, braucht sie keine falschen Vergleiche, weil das Wasser ihr gar nichts sagt, nicht wie es ist oder sein will. Sie hat dann nicht das Bedürfnis, Samt, Seide, Satin oder sonstwas zu diesem Wasser zu sagen, nach einiger Zeit hört sie auf, zu dem Wasser Wasser zu sagen, und als sie einmal spazierengegangen ist in der Nacht, und der Mond war nicht da, war das Wasser jedenfalls schwarz mir keiner weissen Gischt auf dem schwarzen Wasser darauf. Es ist auch kien Wind gewesen. Einmal hat Lila, als sie allein am Wasser ging, rotes Wasser gesehen; weil das Wasser rot war, hat Lila rotes Wasser gesehen, es ist an einem Fluss gewesen, vielmehr an einer Mündung, die ein Delta gewesen ist, der Himmer am Mündungsdelta war blau, es hat einen gelben Strand gegeben, und hinter dem Strand ist Reis gewachsen, die Reisfelder waren gruen, und also hätte nach Lilas Erfahrung das Wasser nicht rot sein dürfen, weder das Wasser vom Fluss, weil nach Lilas Erfahrung Flusswasser braun ist, noch das Wasser vom Meer, und das sas Flusswasser mündet; obwohl man bei einem Mündungsdelta nicht sehen kann, wo das Flusswasser aufhört und dass Meerwasser anfängt, hätte doch des blauen Himmels wegen das Wasser dort, wo es sicher kein Flusswasser, sindern schon Meerwasser war, nicht rot sein dürfen, sondern blau sien müssen. Lila hat später gehört, dass das Wasser von roten Algen so rot wird, Sie hat weiter gehört, dass am Mündungsdelta tote Geflügelteile und Schweineteilleichen durchs Wasser schwimmen und treiben, weil den Fluss hinauf bis ins Gebirge an den Ufern Geflügel- und Schweinezüchter die toten Tiere, die aus Versehen gestorben sind, bevor sie geschlachtet werden konnten, entweder ganz oder in einzelnen Teilen vom Ufer ins Wasser weerfen, sie hat gewusst, dass das rote Wasser mit Hühner- und Schweineteilleichen nicht unbedingt in Verbindung zu bringen ist, Lila braucht keine falschen Vergleiche; rotes Wasser, so hat sie es sagen hören, kommt von den Chemikalien, die auch noch im Wasser sind, und Lila glaubt nicht, dass ausreichende Mengen Chemikalien in toten Ganz- oder Teiltierleichen enthalten sein können, um das Meer rot zu farben, aber obwohl sie es gar nicht wollte, hat sie es trotzdem damit in Verbindung gebracht. Sie weiss noch, dass sie, als sie das rote Wasser zuerst gesehen hat, gedacht hat, dass Wasser nach seiner Natur nicht rot zu sein hat, dann ist ihr eingefallen, dass manche Dinge nach ihrer Natur nicht so sind, wie man sie sieht und kennt, und Lila ist ins Denken geraten, und am Schluss hat sie gedacht, es kann Vorteile haben, und es kann Nachteile haben. An das rote Wasser ist sie aber nicht rangegangen, an braune Wasser geht sie auch nicht ran, aber an schwarze, graue, blaue und grüne Wasser geht sie sehr nah heran, oft auch rein ohne Badekappe mit ihrem schwarzen Haar. Wenn Lila am Wasser spazierengeht, zieht sie meistens di Schuhe und Strümpfe aus und geht mit den Füssen hinein. Nur im Winter lässt sie die Schuhe und Strümpfe an. Sie sagt, dass es gut tut, barfuss allein durch Wasser hindurch und am Wasser entlang spazierenzugehen, und wenn man sie hört, muss man denken, dass das fur Lila das Schönste ist, und sich wundern, warum sie es dann nicht öfter, sonden vergleichsweise selten macht.Niemals geht sie im Badeanzug am Wasser entlang spazieren und Muscheln suchen, somdern immer nur ganz allein, wenn nicht Badezeit ist und das Wasser sowie der Rand Land am Wasser einigermassen leer, nämlich von Menschen leer sind.

Die wenigen Menschen, die ihr begegnen, hält sie für Sonderlinge. Für was sie sich hält, ist ihr dann nicht ganz klar. Vor allem ist es nicht wichtig. Einerseits muss sie ein Sonderling sein, wenn die wenigen Menschen, die ihr am Wasser begegnen, wenn sie am Wasser spazierengeht, Sonderlinge sein müssen. Andererseits ist sie kein Sonderling. Möglicherweise etwas Besonderes ist sie, oder sie ist es auch nicht, aber ein Sonderling ist sie gewiss nicht. Einmal hat sie sogar mit sich selbst gesprochen und sich dabei erwischt, wie sie laut gesagt hat, man wird doch wohl noch spazierengehen können, dabei hatte niemand gesagt, dass sie nicht spazierengehen dürfe, sie hat das sehr trotzig gesagt, so als ob doch jemand ihr das Spazierengehen verboten hätte, das Alleinsein oder Alleine-Spazierengehen, und dann erst hat sie gemerkt, dass sie selbst und sonst niemanddie wenigen Menschen am Wasser für sonderbar hält und folglich sich selbst auch für sonderlich halten muss; der Trotz, mit dem sie halblaut gesagt hat, man wird doch wohl noch spazierengehen dürfen, hat sie erst amüsiert, und dann hat sie sich verdächtigt, am Ende doch sonderlich zu sein, wenn sie derartig trotzig und auch noch halblaut am Wasser entlang solche Sätze sagt, nach einer Weile ist sie völlig versponnen gewesen ins Verhandeln der eigenen Sonderlichkeit, und immer, wenn ihr jemand entgegengekommen ist, hat sie erneut angefangen mit dem Verhandeld, irgendwann ist ihr niemand am Wasser entlang mehr entgegengekommen, und das Verhandeln hat aufgehört, weil es nicht mehr so wichtig war und gar nichts mehr wichtig war.

überhaupt alles hat dann aufgehört. Lila geht am Wasser spazieren, damit alles aufhört, und wenn alles aufgehört hat, ist alles nur das, ws es ist, es sagt nichts und spricht nicht, und Lila muss auch nichts sagen und sprechen, wenn sie erst einmal aufhört, mit sich selbst zu sprechen und zu verhandeln, nicht einmal Wasser muss sie zum Wasser sagen, nachdem sie eine Zeitlang gegangen ist, weil es dem Wasser schliesslich egal ist, wie Lila es nennt, und dem Sand ist es auch egal. Manchmal gibt es zusätzlich auch noch Miewen und hier und da einen Fisch, der tot daliegt. Wenn alles ist, was es ist, und dann liegt auch noch ein Fisch tot herum, kann es sein, dass Lila sich fürchtet. Erst wird ihr ein bisschen übel, weil ihr immer übel wird bei toten Fischen und Vögeln, und nachdem ihr eine Weile lang übel gewesen ist, fängt sie sich an zu fürchten. Tote Fische gucken einen so komisch an, und tote Vögel auch, komisch ist vielleicht nicht das richtige Wort für die Art, wie tote Fische und Vögel gucken, aber Lila fürchtet sich sehr, daher fällt ihr das richtige Wort nicht ein, sondern nur so ein falscher Vergleich, vor lauter Sich-Fürchten findet Lila es immer komisch, wie tote Fische und Vögel sie angucken, zum Kotzen komisch, genauer gesagt, zum Fürchten komisch, zum Wegrennen komisch. Kaum sieht Lila einen toten Fisch am Wasser herumliegen, will sie schon wegrennen, aber dann rennt sie doch nicht weg, weil man vor toten Fischen und Vögeln nicht wegrennen kann, statt dessen geht sie ruhig weiter und fängt erneut mit dem Denken an, versuchsweise denkt sie angestrengt an ihre Steuererklärung, an den Flug nach Bremen, sie denkt, ob sie am Siebzehnten fliegen soll oder doch lieber schon etwas eher; vielleicht lieber etwas eher, vielleicht aber reicht der Siebzehnte auch, denkt ihr Kopf, und trotzdem verschwindet der Fisch nicht vor ihren Augen oder der tote Vogel; obwohl sie schon weitergegangen ist und den Fisch nicht mehr sieht, und der Fisch sie ja sowieso nicht mehr sehen kann, weil er tot ist,sieht sie ihn doch noch, und, was noch schlimmer ist, er sieht sie, nämlich sieht er sie komisch an. Lila schaut sich um und sieht, dass alles ist, was es ist, das Wasser ist da als Wasser und meistens braun oder grau oder blau, die Steine sind da als Steine oder der Sandstrand als Sandstrand, am Strand wächst manchmal Strandhafer, der ganz genau ist, was er ist, nämlich Strandhafer und sonst nichts, alles ist ganz genau, was es ist, blossmit dem toten Fisch oder Vogel davor. Die Steuererklärung hilft nicht, der Flug nach Bremen hilft noch viel weniger, also auch nicht, weil Lila bei Flug an Flugzeug denkt und bei Flugzeug an totel Vogel, sie kann nichts dagegen machen, das kommt ganz von selbst, automatisch, Lila ist immer gerade dann wirklich sehr alleine am Wasser, alle Sonderlinge der Welt sind wie aus der Welt entfehrnt und verschwunden, kein einziger Sonderling ist mehr da, keiner sieht Lila ausser dem toten Fisch, keiner hört sie, und keiner lenkt sie ab. überigends ist auch der tote Fisch, was er ist, einfach ein toter Fisch, obwohl Lila in solchen Momenten flüchtig an einen Seelenarzt denkt, den sie kürzlich in Zürich kennengelernt hat, oder wo das war, eine weltweite Kapazität und Grösse, dieser Arzt, einen Augenblick ist sie abgelenkt, weil sie nachdenken muss, ob in Zürich, oder wo auf der Welt das war, der Fisch ist also ein Fisch, und Lila verwirft den Kapazitätenarzt, weil, soweit sie weiss, Kapazitäten und Seelenärzte auschliesslich für solche Fische und Vögel hilfreich und zuständig sinf, die keine wirklichen Fische un Vögel sind, sondern tot und lebendig nur eingebildet. Lilas toter Fisch ist nicht eingebildet. Lila sieht sich die Zürcher Kapazität und Grösse am ärmel den Strand entlangziehen zu der Stelle mit dem toten Fisch, sehen Sie, hier liegt der Fisch und ist da, natürlich schon etwas vergammelt seit letzter Woche, und wenn ihn das Wasser oder die Möwen nicht geholt und gefressen haben, ist er auch immer noch da, ja tatsächlich; Lila sieht, wie die Kapazität verlegen wird und sich räuspert und nach dem Räuspern zugeben muss, dass der Fisch wirklich da ist und ebenso wirklich tot ist und dass er komisch guckt. Finden Sie nicht, dass er komisch guckt?, würde Lila den Seelenarzt fragen, und der Seelenarzt würde es auch finden, und zugeben müssen, aus Anstand und aus Verlegenheit würde er selbsverstänlich den Flug von Zürich hierher an en Strand aus der eigenen Tasche bezahlen, und selbstverständlich wäre die ganze Sitzung umsonst, die auch gar keine Sitzung gewesen wäre, sondern dieser Spaziergang am Strand zu der Stelle mit dem toten Fisch; der Seelenarzt würde sich wortreich bei Lila entschuldigen müssen, dass er ihren toten Fisch mit einem eingebildeten Phantasiefisch verwechselt hätte, und nichts wäre damit gewonen oder gelöst, der Fisch wäre weiter ein Fisch und weiter vor Lilas Augen, genau wie der tote Vogel, der einmal vor ihrem Auto lag, und auch der andere Vogel, der erst noch lebendig war, als er durchs Fenster herein in ihr Zimmer geflogen kam, und dann ist er immerzu gegen die Wände geflogen, gegen alle vier Wände, bloss nicht wieder durchs Fenster hinaus, so ein dummer Vogel, hat das Fenster nicht wieder gefunden, Lila im Zimmer ist das Wegrennen nicht gelungen, obwohl es ihr sehr übel war, zum Wegrennen übel, der Vogel ist eine junge Amsel gewesen und hat sich mindestens so gefürchtet wie sie vor dem Sterbenmüssen und vor den Wänden, vor Furcht har er überall Vogeldreck hingemacht und gepiepst, und schliesslich hat er doch sterben müssen, direkt an der Wand ist er von der Wand auf den Boden gefallen, so ein dummer Vogel, dabei vom Fenster nicht weit entfernt, auf dem Boden hat er noch mit den Flügeln ein bisschen zu fliegen versucht, dann hat er nur noch mit den Flügeln gezuckt, und dann nicht mehr mit den Flügeln, sondern nur noch mit der Brust gezuckt, und danack gar nicht mehr, und Lila hat einen toten Vogel im Zimmer gehabt. Während sie weiter am Wasser entlang spazierengeht, hat sie plötzlich alle totel Fische und Vögel auf einmal vor sich und an sich, auf ihren eigenen Augen geklebt, auf die Netzhaut geklebt, und nicht wegzukriegen, und alle gucken sie Lila so komisch an.

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Adrian Turtschi, Feb. 2001